
Wer nach dem Stichwort »Konzentrationsübungen« sucht, findet zahlreiche Blogartikel, in denen behauptet wird, dass die Konzentrationsfähigkeit wie ein Muskel trainiert werden könne. Das Versprechen lautet: Wer die genannten Übungen über einen längeren Zeitraum regelmäßig durchführt, wird sich nach einer Weile besser konzentrieren können. Funktioniert Konzentrationstraining wirklich?
Die Wahrheit über Konzentrationsübungen
Schon vor über 100 Jahren beschrieb der US-amerikanische Autor William Walter Atkinson sogenannte Konzentrationsübungen, mit denen sich angeblich die Konzentration steigern lässt:
Atkinson war weder Psychologe noch Wissenschaftler, sondern Anhänger des New Thought Movement, einer esoterischen Bewegung, die mit Wissenschaft nichts am Hut hatte. Atkinsons Buch The Power of Concentration*, in dem die oben genannten sowie zahlreiche weitere Konzentrationsübungen beschrieben sind, erschien 1916 unter dem Pseudonym Theron Q. Dumont.
Die Konzentrationsübungen, die in aktuellen Blogartikel zum Thema Konzentrationstraining vorgestellt werden, unterscheiden sich nur wenig von Atkinsons Übungen. Zum Beispiel soll die Konzentrationsfähigkeit mit diesen Übungen trainiert werden können:
Konzentrationsübungen werden als bare Münze verkauft
In keinem mir bekannten Artikel sind wissenschaftliche Studien erwähnt, geschweige denn verlinkt. Entweder existieren keine Studien oder die Autoren der Artikel sind der Ansicht, dass die Wirksamkeit ihrer Übungen auf der Hand liege. Das ist unbefriedigend!
Bevor ich täglich zehn Minuten lang Buchstaben zähle oder rückwärts schreibe, würde ich gerne wissen, ob diese Konzentrationsübungen wirklich etwas bringt. Eine Meta-Studie von 2018, die sogenannten Brain Games keine Wirksamkeit nachweisen konnte, lässt mich an der Sinnhaftigkeit von Konzentrationsübungen zweifeln.
Die Kontroverse um Brain Games
Brain Games sind Computerspiele, deren Anbieter behaupten, dass sie in der Lage seien, das räumliche Vorstellungsvermögen, das Arbeitsgedächtnis oder gleich das gesamte Gehirn zu trainieren. Um von der Wirksamkeit ihrer Gehirnjogging-Produkte zu überzeugen, führen die Anbieter oftmals Studien durch, mit denen sie auf ihren Websites werben.
Kann man den Studien der Anbieter trauen?
Vor wenigen Jahren war die wissenschaftliche Gemeinschaft bezüglich dieser Frage gespalten: Einige Wissenschaftler waren von Brain Games begeistert und anderen waren sie ein Dorn im Auge.
Nach Ansicht der Kritiker sei zwar richtig, dass man durch regelmäßiges Training in der entsprechenden Übung immer besser wird, aber die erworbenen Fähigkeit übertragen sich nicht auf andere Lebensbereiche. Zumindest sei ein solcher Ferntransfer bisher nicht glaubhaft belegt worden.
Um das Jahr 2014 hatten 75 Neurowissenschaftler und Psychologen aus den USA und verschiedenen europäischen Ländern die Nase voll. Sie unterzeichneten einen gemeinsamen offenen Brief, in dem sie sich gegen Brain Games aussprachen:
»Wir wenden uns gegen die Behauptung, dass Brain Games den Konsumenten eine wissenschaftlich fundierte Möglichkeit bieten, den kognitiven Verfall zu reduzieren oder rückgängig zu machen, obwohl es dafür bis heute keine überzeugende wissenschaftliche Evidenz gibt. Das Versprechen eines Wundermittels lenkt davon ab, dass die kognitive Gesundheit im Alter die langfristigen Auswirkungen eines gesunden, engagierten Lebensstils widerspiegelt.«
Nicht alle Wissenschaftler teilten diese Ansicht. Die Gegenseite verfasste eine öffentliche Stellungnahme, die von 133 Wissenschaftlern und Praktikern unterzeichnet wurde.
Verbrauchertäuschung?
Der Anbieter des »Gehirntraining«-Programms Lumosity musste 2016 einer Entschädigungszahlung in Höhe von 2 Millionen US-Dollar an seine Nutzer zustimmen. Eine Aufsichtsbehörde war wegen Verbrauchertäuschung gegen das Unternehmen vorgegangen.
Lumos Labs hatte damit geworben, dass die Online-Spiele den Nutzern helfen können, bessere Leistungen bei der Arbeit und in der Schule zu erbringen und kognitive Defizite abzuwehren, die mit schweren Krankheiten wie Alzheimer, traumatischen Hirnverletzungen und posttraumatischem Stress verbunden sind. Die Federal Trade Commission war zu der Einschätzung gelangt, dass es keine ausreichende wissenschaftliche Grundlage für dieses Werbeversprechen gebe.
Endlich Gewissheit
Im Jahr 2018 wurde schließlich eine sogenannte Meta-Studie veröffentlicht, die dem Hype um Brain Games den finalen Todesstoß versetzte. Die Autoren hatten mehr als 300 einzelne Studien ausgewertet. Ihre ernüchternde Schlussfolgerung lautet:
»Wir haben keine Hinweise auf einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Spielen von Videospielen und verbesserten kognitiven Fähigkeiten gefunden.«
Die Vorstellung, nach der das Gehirn wie ein Muskel trainiert werden kann, scheint falsch zu sein. Damit sollten auch die Konzentrationsübungen vom Tisch sein.
Warum das Gehirn nicht wie ein Muskel trainiert werden kann
Muskeln arbeiten nach einem einfachen Prinzip. Sobald ein Nerv das Kommando gibt, verschieben sich die Aktin- und Myosin-Filamente, aus denen die Muskelfasern bestehen, in entgegengesetzte Richtung. Der Muskel zieht sich zusammen und übt eine Kraft auf die Knochen aus, mit denen er verwachsen ist. Je größer der Querschnitt eines Muskels, umso mehr Kraft kann er erzeugen.
Wenn wir unsere Muskeln im Rahmen von Training wiederholt an ihre Grenzen bringen und dem Körper dadurch zeigen, dass unsere Kraft nicht ausreicht, werden Wachstumshormone ausgeschüttet. Sofern ausreichend Baumaterial zur Verfügung steht, wird mehr Aktin und Myosin gebildet und der Muskel wächst.
Gehirne funktionieren grundlegend anders. Auf den ersten Blick scheint auch unser Gehirn aus identischen Grundeinheiten zu bestehen, nämlich rund 86 Milliarden Neuronen. Wer genauer hinsieht, wird jedoch feststellen, dass kein Neuron dem anderen gleicht, denn jedes Neuron ist auf einzigartige Weise mit bis zu 10.000 anderen Neuronen verschaltet.
Etwas vereinfacht gesprochen, ist das Gehirn eine dreidimensionale Festplatte, auf der das Betriebssystem und unser Wissen gespeichert sind. Da die Speicherkapazität des Gehirns die von DNA um viele Größenordnungen übertrifft, müssen wir die individuelle Verschaltung unserer Neuronen im Laufe unseres Lebens durch Lernen erworben haben.
Bei Muskeln existiert ein einfacher biologischer Mechanismus, über den die Leistungsfähigkeit des gesamten Muskels gesteigert werden kann, sofern es einen entsprechenden Bedarf gibt. Bei Gehirnen kann es einen solchen einfachen biologischen Mechanismus nicht geben. Folglich kann es auch keine einfache Trainingsmethode geben, die das Gehirn als Ganzes trainiert.
Konzentration wird nicht trainiert, sondern gelernt
Der Mechanismus, der die Gehirnleistung steigert, heißt »Lernen«. Etwas zu lernen bedeutet, Zusammenhänge zu erkennen und Strategien zu entwickeln.
Konzentration zu lernen bedeutet, zu erkennen, welche Faktoren die Konzentration im entsprechenden Kontext begünstigen und welche Faktoren die Konzentration stören. Dann müssen Strategien entwickelt werden, die die günstigen Faktoren stärken und ungünstigen Faktoren schwächen.
Da die Faktoren vom Kontext abhängen, ist das effektive Lernen von Konzentration nur in dem Kontext möglich, für den man sich mehr Konzentration wünscht. Wer konzentrierter arbeiten möchte, wird dieses Ziel nicht erreichen, indem er täglich zehn Minuten lang rückwärts buchstabiert oder vergleichbare Konzentrationsübungen durchführt.
Motivation spielt eine entscheidende Rolle
Und ob die Konzentration auf ein bestimmtes Objekt oder eine bestimmte Tätigkeit gelingt, hängt gar nicht so sehr von der Stärke des Konzentrationsmuskels ab. Oftmals ist es eher eine Frage der Motivation.
Ich bin gut darin, konzentriert mit Texten zu arbeiten: Ich kann stundenlang konzentriert lesen und schreiben. Doch sobald ich einen Spielfilm schaue, bin ich notorisch unaufmerksam. Ich passe nicht auf, höre nicht zu und denke nicht mit. Spielfilme interessiere mich einfach nicht so sehr. Deshalb nutzt mein Gehirn diese Zeit für Routinetätigkeiten, die anscheinend wichtiger sind als der Film.
Und was ist mit Meditation, Lesen und Sport?
Wer mein Buch Erfolg durch Fokus & Konzentration (Amazon*, Zusammenfassung) gelesen hat, weiß, dass ich Meditation, Lesen und Sport empfehle, um die Konzentration zu trainieren. Wie passt das ins Bild?
Darum sind Meditation, Lesen und Sport gute Konzentrationsübungen:
Die Kombination aus Sport, Lesen und Meditation ist das perfekte Aufmerksamkeits- und Konzentrationstraining.
Fazit
Anstatt zu versuchen, die Konzentration mit esoterischen Konzentrationsübungen zu trainieren, sollten wir für diejenige Anwendungsfälle, für die wir uns mehr Konzentration wünschen, gezielt wirksame Strategien entwickeln. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass es viele verschiedene Wege und Methoden zur nachhaltigen Steigerung der Konzentration gibt.