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Über Ray Kurzweil
Ray Kurzweil (geboren 1948) ist ein Pionier auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz und Leiter der technischen Entwicklung bei Alphabet (Google).
In seinem Buch Das Geheimnis des menschlichen Denkens* beschreibt er seine Muster-Erkennungs-Theorie des Geistes, kurz PRTM (Pattern Recognition Theory of the Mind). Sie basiert auf den Erkenntnissen der modernen Gehirnforschung und dient der angewandten KI-Forschung als Blaupause für die Entwicklung künstlicher Intelligenz.
Zusammenfassung
Die Muster-Erkennungs-Theorie des Geistes (PRTM) beschreibt die Arbeitsweise der Großhirnrinde (Neocortex), dem Sitz des Denkens, Verstehens und Erinnerns. Der Neocortex ist 2 bis 5 Millimeter dick und verleiht dem menschlichen Gehirn die charakteristisch gefaltete Oberfläche. Komplett entfaltet hätte er in etwa die Ausmaße der Sitzfläche eines Stuhls. Bei den meisten anderen Säugetieren ist der Neocortex deutlich kleiner. Die PRTM kann einige Phänomene erklären, die den meisten Menschen aus eigener Erfahrung bekannt sein dürften.
(1) Unser Gehirn ist unglaublich gut darin, Muster zu erkennen, aber Logik fällt uns vergleichsweise schwer. Zum Beispiel ist das menschliche Gehirn dazu in der Lage, vertraute Gesichter schnell und zuverlässig wiederzuerkennen – auch unter ungünstigen Bedingungen, zum Beispiel wenn sie in Form von Karikaturen stark verzerrt sind. Kein Computer ist dazu in der Lage. Bei Logik verhält es sich umgekehrt. Hier ist uns jeder Taschenrechner haushoch überlegen.
(2) Wir können das Alphabet in wenigen Sekunden aufsagen, jedoch nicht in umgekehrter Reihenfolge. Unser Wissen scheint in Listen organisiert zu sein, die Einbahnstraßen gleichen.
Kurzweils PRTM geht davon aus, dass der Neocortex aus rund einhundert Millionen fast identischen Grundeinheiten besteht, den Mustererkennern. Die funktionelle Einheit im Neocortex ist damit nicht das einzelne Neuron sondern ein Verbund von einigen Dutzend Neuronen.
Wir sind dazu in der Lage, komplexe Muster flexibel wiederzuerkennen, weil unsere Mustererkenner hierarchisch miteinander verschaltet sind. Dieses universelle Prinzip lässt sich am einfachsten am Beispiel von Textverständnis verstehen.
Während wir einen Text lesen, scannen unsere Augen den Text Zeile für Zeile von links nach rechts. Die Mustererkenner der untersten Hierarchieebene verarbeiten die Rohdaten aus dem Sehsystem. Sie erkennen helle und dunkle Bereiche und melden diese in Echtzeit an Mustererkenner der zweiten Hierarchieebene. Hier wird die charakteristische Abfolge heller und dunkler Bereiche einfachen Formen zugeordnet, zum Beispiel Punkten, Strichen und Kurven. Ein Mustererkenner ist für das Erkennen einer einzigen Form zuständig und meldet ein positives Ergebnis an Mustererkenner der dritten Hierarchieebene. Hier gibt es Mustererkenner, die einzelne Buchstaben erkennen. Ein Mustererkenner, der den Buchstaben i erkennt, würde zum Beispiel aktiv werden, wenn er Meldungen über einen Punkt und einen vertikalen Strich erhält. Noch eine Hierarchieebene höher, gibt es Mustererkenner, die einzelne Worte erkennen, sobald ein charakteristisches Muster an Buchstaben gemeldet wurde. Und immer so weiter. Auf der höchsten Hierarchieebene erkennen die Mustererkenner abstrakte Konzepte wie zum Beispiel Sarkasmus oder Ironie.
Auf die gleiche Weise erkennen wir vertraute Gesichter und auch die Emotionen, die diese möglicherweise ausdrücken. Auf die gleiche Weise kann ein Schachspieler die Positionen der Figuren auf dem Schachbrett lesen und seinen nächsten Zug planen, ohne – wie ein Computer – Millionen Züge vorausberechnen zu müssen.
Kurzweil vermutet eine hohe Redundanz, das heißt ein vertrautes Gesicht wird wahrscheinlich nicht von einem einzigen Verband an Mustererkennern erkannt, sondern von vielen Verbänden, die sich leicht voneinander unterscheiden. So können wir Gesichter aus verschiedenen Perspektiven erkennen und unterschiedliche Schriftarten lesen. Die Mustererkenner benachbarter Hierarchieebenen tauschen sich intensiv miteinander aus. Dabei fließen Informationen in beide Richtungen. Erfolgreich erkannte Muster werden von unten nach oben gemeldet, und Informationen über die Erwartung zu erkennender Muster fließen in die umgekehrte Richtung. So können Muster auch unter ungünstigen Bedingungen erkannt werden. Zum Beispiel der folgende Satz:
Unnsniig aebr lhiect zu leesn
Jeder geübte Leser kann diesen Satz lesen, aber es dauert etwas länger als bei einem fehlerfreien Satz, weil ein intensiverer Austausch zwischen den Mustererkennern der einzelnen Hierarchieebenen notwendig ist.
Nicht nur die Wahrnehmung, auch das assoziative Denken funktioniert auf der Basis der Mustererkenner. Ein Gedanke A löst einen Gedanken B aus, weil der Gedanke A von einem Mustererkenner, der den Gedanken B repräsentiert, erkannt wird. Dass sich Menschen mit Logik so schwertun, liegt daran, dass das sogenannte logische Denken auf der Basis von Mustererkennung funktioniert.
Der Neocortex guter logischer Denker enthält eine vergleichsweise große Bibliothek mit bereits gelösten logischen Problemen, die zur Lösung neuer logischer Probleme herangezogen wird. Was sie nicht auf bereits Bekanntes zurückführen können, ist auch für sie nicht einfach lösbar.
Und unsere Handlungen?
Auch hier spielt die hierarchische Mustererkennung eine Hauptrolle. Bestimmte Auslösereize starten eine komplexe Routine, die aus einer Kette von Handlungen besteht, die sich ihrerseits aus einer Kette von Mikro-Handlungen zusammensetzt. Wenn morgens der Wecker klingelt, stehe ich auf und gehe duschen. Anschließend koche ich mir einen Kaffee und mache mich an die Arbeit. Die Zubereitung meines Kaffees verläuft über Handlungen, die ich jeden Morgen in der gleichen Reihenfolge abspule: Kaffeemaschine einschalten – warten bis sie aufgewärmt ist – Schrank öffnen – Kaffeetasse entnehmen – Schrank schließen – Tasse unter den Auslass stellen – Knopf drücken – und so weiter.
Jeder einzelne dieser Schritte besteht aus Mikro-Handlungen. Zum Öffnen des Schranks umfasse ich den Griff mit der rechten Hand und ziehe die Schranktür zu mir. Dann lasse ich den Griff wieder los und senke den Arm. Niemals lasse ich auch nur einen Schritt aus – außer wenn ich beim Abspulen einer Routine unterbrochen werden, zum Beispiel durch einen Telefonanruf. Dann kann es passieren, dass ich einen Schritt vergesse und zum Beispiel den Knopf der Kaffeemaschine drücke, ohne zuvor eine Tasse unter den Auslass gestellt zu haben.
Wer hat unsere Mustererkenner programmiert? Wir selbst! Die Mustererkenner werden programmiert, indem man sich den von ihnen erkannten Mustern aussetzt.
Der Lernprozess hat schon vor unserer Geburt mit dem Erkennen von hell und dunkel und von Geräuschen angefangen. Je häufiger ein Mustererkenner seinem Muster ausgesetzt ist, umso zuverlässiger erkennt er es. Bei den höchsten Hierarchieebenen dauert es entsprechend am längsten, bis sie ausgelernt haben, denn sie erhalten erst dann zuverlässige Daten von den Ebenen darunter, wenn deren Entwicklung weitgehend abgeschlossen ist. Kinder können mit drei Jahren sprechen, aber erst mit etwa zehn Jahren verstehen sie Ironie.
Solange die Mustererkenner noch nicht ausgelernt haben, sind Denkfehler unvermeidlich. Die meisten Denkfehler sind nicht zufällig. Sie gehorchen einer gewissen Logik und sind reproduzierbar.
Ein verbreiteter Denkfehler könnte darin bestehen, das Wissen über die Funktionsweise eines Muskels auf das Gehirn zu übertragen. Viele Menschen glauben, man könne das Gehirn als Ganzes wie einen Muskel trainieren, zum Beispiel durch Kreuzworträtsel oder Sudoku. Experten sprechen vom sogenannten Ferntransfer.
Gibt es einen Ferntransfer? Kann das logische Denken durch das Lösen von Kreuzworträtseln trainiert werden? Wenn der Neocortex tatsächlich nach Kurzweils Vorstellung funktioniert, dann wäre ein Ferntransfer nicht zu erwarten. Die meisten Studien sprechen ebenfalls gegen den Ferntransfer.
Beim Lösen von Kreuzworträtseln werden nur diejenigen Mustererkenner lernen, die dabei zum Einsatz kommen. Man kann allenfalls auf einen Nahtransfer hoffen: Wer Kreuzworträtsel löst, wird besser darin, Kreuzworträtsel zu lösen und auch einige sehr ähnliche Fähigkeiten könnten verbessert werden. Das Gehirn als Ganzes kann nicht mit einer einzelnen Übung trainiert werden.
Unsere individuellen kognitiven Fähigkeiten hängen mit der Programmierung der Mustererkenner in unserem Neocortex zusammen. Wer bestimmte Mustererkenner nicht ausgebildet hat, kann sie nicht nutzen. Eine wichtige Implikation aus der PRTM ist, dass Wissen so abgespeichert werden sollte, wie es spätere einmal angewendet werden soll. So müssen auch Vokabeln in beiden Richtungen gelernt werden.
Fazit
Es ist interessant, sich die Arbeit der hierarchischen Mustererkenner im Alltag bewusst zu machen. Mir ist aufgefallen, dass ich den Reifegrad von Birnen möglicherweise mit meinem Apfel-Mustererkenner beurteile. Aufgrund ihrer Textur und Härte, halte ich Birnen fast immer für weniger reif und süß, als sie tatsächlich sind. (Ich habe schon immer viele Äpfel gegessen, aber Birnen esse ich erst seit ein paar Jahren und weniger häufig als Äpfel.)
Wenn ich am Computer schreibe und mich vertippe, dann beginne ich den Satz lieber noch einmal ganz von vorne, als in der Mitte des Satzes zu starten.
Es ist wichtig zu verstehen, dass die Mustererkennung die Sprache unserer Gedanken ist. Wenn bestimmte Mustererkenner nicht mit den Mustererkennern für Sprache verbunden sind, können wir über Dinge zwar nachdenken, aber wir können sie nicht artikulieren. In einer Umgebung, in der nur artikulierte Gedanken zugelassen sind, kann das volle Potential des Gehirns nicht genutzt werden, weil viele Mustererkenner eben nicht mit den Mustererkennern für Sprache verknüpft sind.
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